Venice Beach Sign

Thoughts about…Venice Beach // Die Wahrheit liegt hinter dem Boardwalk

Es muss etwa 22 Uhr sein als der dunkle VW Jetta um die Ecke gebogen kommt. Die Straße ist noch leicht feucht, bis vor Kurzem hat es geregnet. Der Jetta fährt durch eine kleine Pfütze und kommt vor einem der Häuser am Straßenrand zum Stehen. Es herrscht kurz Stille, dann springen zwei der drei schwarzen Wageninsassen aus dem Auto und laufen zum Haus. Einer der beiden Schwarzen positioniert sich direkt vor der Haustüre, der andere läuft hinüber zu dem vor der Garage des Hauses abgestellten Wagen. Er schaut sich kurz um, dann schlägt er fast lautlos die Scheibe der Fahrerseite ein. Stille. Er greift vorsichtig durch die zerschlagene Scheibe und öffnet die Türe des Wagens. Plötzlich öffnet sich die Eingangstüre des angrenzenden Hauses mit einem lauten Knall und ein junger Weißer stürmt heraus – nur mit Boxershorts und Boots bekleidet, der Kopf kahl rasiert, auf dem nackten Oberkörper prangt ein dunkles Tattoo. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf Schüsse. Der Schwarze, der vor der Haustüre Schmiere gestanden hat, sackt leblos in sich zusammen. Eins. Zwei. Drei weitere Schüsse. Der Schwarze, der sich am Auto zu schaffen gemacht hat, stürzt auf die Wiese vor dem Haus, drei Schüsse haben ihn getroffen und verletzt. Der im VW Jetta gebliebene Fahrer hat längst den Motor gestartet und versucht mit quietschenden Reifen dem Kugelhagel zu entkommen, 17 Schüsse durchlöchern seinen Wagen von hinten bevor er es um die nächste Kurve schafft und der junge Mann mit der Waffe ihn nicht mehr einholen kann. Der Mann hört erst auf zu schießen als ihm endlich die Kugeln ausgehen. Für einen kurzen Moment herrscht Ruhe, dann hört man Schreie aus dem Haus. Auf jeden Fall die einer jungen Frau, vielleicht auch das Weinen eines kleinen Mädchens, man kann es nicht genau hören. Ein panisches „Get down! No! No, get down!“ hallt durch den Nachthimmel. Langsam dreht sich der Schütze um, die Pistole immer noch am ausgestreckten Arm nach vorne gerichtet. Er schaut sich um, seine Augen suchen und finden den Autodieb, den er angeschossen hat. Sein Schritt wird schneller, er eilt zur Wiese vor seinem Haus, auf der der verletzte Schwarze sich mit schmerzverzerrtem Gesicht über den Boden Richtung Straße zieht. Seine Augen funkeln. „Nigger, you just fucked with the wrong bull…come here!” brüllt er. Er packt den Schwarzen im Nacken an der Jacke, zerrt ihn zum Bordstein und zwingt ihn, sich auf den Bauch zu legen, die bereits leere Pistole in seinen Nacken gepresst. „Put your fucking mouth on the curb…put it on the curb RIGHT NOW!“ Langsam öffnet der Schwarze seinen Mund und umschließt die Bordsteinkante schließlich mit seinen Zähnen. Sein helles Gebiss leuchtet im Dunkeln. Eins. Zwei. Drei Sekunden. Der junge Mann nimmt Anlauf. Das laute Krachen des zertrümmerten Gebisses und des brechenden Genicks durchbricht die Dunkelheit.

Venice Beach Yard

Es ist 1998 und wir sind in Venice Beach. Die beschriebene Szene hat nie stattgefunden. Niemand ist getötet worden. Es handelt sich um eine fiktive Szene, die Schlüsselszene des Films American History X, in der der rechtsextreme Derek Vinyard zwei Schwarze wegen eines versuchten Diebstahls regelrecht hinrichtet. Die grausame Szene wird später als sogenanntes Randsteinbeißen bekannt und findet unglücklicherweise Nachahmer in der deutschen Neonazi-Szene.

Palmen am Venice Beach Boardwalk

Hinter dem Venice Beach Boardwalk

Von Venice Beach hat man irgendwie ziemlich konkrete Vorstellungen bevor man dort gewesen ist. Vor dem inneren Auge spielen sich lebhafte Szenen auf dem von Palmen gesäumten Venice Beach Boardwalk ab: Man sieht die unzähligen Buden mit ihren billigen T-Shirts, Touristen, die auf pastellfarbenen Beach Cruisern dem Sonnenuntergang entgegen radeln, muskelbepackte junge Männer, die am Muscle Beach trainieren als seien sie Teil einer Show. Glücklich lachende Menschen, die auf dem schier endlos breiten Sandstrand während des vielleicht schönsten Sonnenuntergangs der Welt Fotos mit den Lifeguard Häuschen im Hintergrund knipsen, die ganzen Verrückten und die Freaks von Venice Beach, die tagein, tagaus friedlich über den Boardwalk tingeln. Und dann ist man das erste Mal in Venice Beach und irgendwie ist es auch genauso. Aber irgendwie auch nicht.

Basketball Court in Venice Beach

Das „irgendwie auch nicht” hat mich unvorbereitet getroffen. Venice Beach ist der Ort, an dem viele derjenigen landen, die es in Los Angeles nicht geschafft haben. Diejenigen, die von der Größe der Stadt verschluckt und wieder ausgespuckt werden, ganz an den Rand. Venice Beach ist White Trash, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Drogenmilieu, Obdachlosigkeit  und jede Menge Schwarze, die traditionell ohnehin in die Suburbs abgedrängt werden. Dazwischen begegnet man immer wieder Menschen, die sich ganz bewusst für diese Lebensumgebung entschieden zu haben scheinen, solche, die von ihrem optischen Erscheinungsbild auch im Londoner Stadtteil Camden gut aufgehoben wären. 500 Meter weiter stehen Millionen teure Villen direkt am Strand.

Venice Beach Boardwalk

Venice Beach

Beach Cruiser am Venice Beach

Venice Beach bei Nacht

Wahrscheinlich ist es genau dieser Kontrast aus Freigeistern und hier zu erwartendem Reichtum, der Venice Beach ausmacht. Wenn man als Tourist aus Los Angeles für einen halben Tag und einen kurzen Spaziergang über den Venice Beach Boardwalk hierher kommt  – ein bisschen bummeln, vielleicht ein Rad leihen, Eis essen, das Venice Beach Sign fotografieren – dann sieht man genau diesen Teil von Venice Beach. Das war auch der Teil, den ich in meiner romantisch verklärten Vorstellung von Venice Beach erwartet habe und weswegen ich unbedingt für ein paar Tage in Venice Beach wohnen wollte anstatt in Los Angeles. Du kannst es dir denken – die Villen direkt am Strand wollte ich mir nicht leisten, nicht für eine einzige Nacht.

Und so landeten wir in einem via AirBnB gemieteten Wohnwagen, der im Hinterhof von John‘s Haus stand, nur ein paar Hundert Meter entfernt vom Strand. Als ich das erste Mal die wackelige rote Holztüre zum Hinterhof, die sinnloserweise in einen nicht weniger wackeligen Verschlag aus Holz und Plastikplane eingepasst war, öffnete, wurde mir klar, dass das hier – dass Venice Beach – nicht Glanz und Glamour ist. Unser Wohnwagen steht mit zwei weiteren Wohnwagen im Hinterhof des heruntergekommen wirkenden Hauses. Einen John finden wir hier nicht vor, dafür aber eine ziemlich dünne Katze und John‘s (angebliche) Schwester. Sie trägt verlöcherte Kleidung und lebt in einem der Wohnwagen.

Wohnsituationen wie diese sehen wir in ganz Venice Beach in den nächsten Tagen noch zu hunderten. Hinterhöfe, die von teils meterhohen Zäunen umgeben sind, wackelig zusammengebaut aus allen möglichen Materialien, durch die Lücken in den Zäunen kann man überall Wohnwagen darin entdecken. Am Straßenrand sieht man in ganz normalen Wohngegenden genauso wie auf den belebteren Hauptstraßen immer wieder Autos stehen, die offensichtlich schon eine Weile nicht mehr von der Stelle bewegt worden sind. Erst auf den zweiten Blick erkennen wir, dass in diesen Autos Menschen leben. Auf dem Venice Beach Boardwalk und auf dem Strand sind Warnschilder aufgestellt, dass das Betreten des Strandes nach Einbruch der Dunkelheit verboten ist, da es zu gefährlich ist. An manchen Stellen riecht es ganz erbärmlich nach Urin.

John’s Schwester (oder wer auch immer diese wirklich nette Lady war, die uns ein paar Tage lang ihren fettesten Trailer zur Verfügung gestellt hat) erzählt uns, dass das Meer in Venice so dreckig ist, dass sie hier auf keinen Fall baden würde. Sie würde nach Malibu fahren zum Baden, dort ist es sauber, aber dort war sie schon ein paar Jahre nicht mehr. Eigentlich ist Malibu nicht weit weg…ich frage nicht weiter nach den Gründen, weshalb sie schon so lange nicht mehr dort war. Ihre Kleidung hat große Löcher, ich kann es mir denken.

Straßen von Venice Beach

Straßen von Venice Beach

Venice

Graffiti in Venice Beach

John‘s Schwester ist übrigens schwarz. Sie hätte aber genauso gut weiß sein können. Armut macht in Venice Beach nicht Halt vor Hautfarben oder Nationalitäten. Und hier schlagen wir wieder die Brücke zu American History X: Der Film wurde nicht ohne Grund in Venice Beach gedreht. Hier, zwischen White Trash, Arbeitslosigkeit, Armut und Drogenkriminalität hat sich in den 1990er Jahren eine ausgeprägte Neonazi-Szene entwickelt. Wenn man weiß, dass Venice Beach der Dreh- und Spielort von American History X ist, sieht man die Stadt mit anderen Augen. Man sieht plötzlich nicht mehr nur die pastellfarbenen Beach Cruiser, die hellblauen Lifeguard Häuschen, die Strandvillen, den belebten Boardwalk, auf dem alle happy sind und die leuchtenden Sonnenuntergänge, sondern auch den anderen Teil. Den Trash. Den Teil, der hinter dem Venice Beach Boardwalk stattfindet.

Ich kenne keinen Ort auf der Welt, der so schön und zugleich abscheulich ist.

Venice Beach Hostel

Straßen von Venice Beach

Venice Beach

Graffiti in Venice Beach

Straßen von Venice Beach

Sonnenuntergang am Venice Beach

Dieser Beitrag ist Teil der Blogparade “Mein nachdenklichstes Erlebnis auf Reisen“. Vielen Dank, Paul, dass wir dabei sein dürfen.

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